Meine Meinung
Es ist düster, deep und aggressiv - und es ist vor allem ziemlich übersteuert. Kaum eine Musik verkörpert die Generation TikTok so deutlich wie Phonk. Mittlerweile ist rund um das Genre ein veritabler Hype entstanden, der von TikTok auch in den Kommerz hinüberschwappt. Spotifys kuratierte Phonk-Playlist verzeichnet mittlerweile fast 3,5 Millionen Follower - und diese Followerschaft wächst täglich um viele Tausend Nutzer. Was Sam Smith, klassischer 90er-HipHop, Kuhglocken und driftende Autos mit dem derzeitigen Musikhype schlechthin zu tun haben, erfahrt ihr wie immer in aller Ausführlichkeit bei uns.
Mit dem gleichnamigen Funk der 1960er-Jahre hat Phonk wenig zu tun. Seine Ursprünge liegen in den US-Südstaaten der 1990er-Jahre, genauer gesagt im so genannten Memphis Rap, einem lokalen Subgenre des Rap und Hip-Hop aus Tennessee. Damals nutzte man einen klassischen Roland-808-Kickbass, Samples aus Soul, Funk und sogar klassischer Musik und Filmmusik als Grundlage für Rap-Instrumentals. Meist entstammten die Samples den Soundtracks klassischer Horrorfilme. Bereits damals nutzten viele Produzenten die heute charakteristischen Kuhglocken-Sounds und aggressive Snaredrums. Die größtenteils düstere und explizite Stimmung der Texte und das eher im LoFi-Bereich zu verortende Klangbild erzeugte dabei eine eher bedrückende Atmosphäre. LoFi vor allem deswegen, weil der undergroundige Memphis Rap größtenteils von Amateuren produziert wurde. Das große Geld war damals nicht mit dieser Musik zu holen, war die kommerzielle Rap- und Hip-Hop-Szene doch von den großen East- und Westcoast-Rappern aus New York und Los Angeles dominiert. Mit die kommerziell erfolgreichsten Tracks des Memphis Rap stammen von der Three 6 Mafia wie etwa „Tear Da Club Up“:
Aus Einflüssen des Traps und des G-Funk entstand aus dem Memphis-Rap im Laufe der 2000er-Jahre eine instrumentallastigere Abwandlung, der so genannte Phonk. „Phonk“ ist dabei eine Südstaaten-Slang-Version des Wortes „Funk“, die der Produzent SpaceGhostPurrp mit Tracks wie „Pheel tha Phonk“ prägte. Diese frühe Vorform hat allerdings wenig mit dem zu tun, was wir heute als Phonk kennen. Noch immer sehr nah am Hip-Hop und weiterhin mit der gewohnten düsteren Grundstimmung blieb der Phonk zu dieser Zeit im Untergrund und geriet mit Beginn der 2010er-Jahre wieder größtenteils in Vergessenheit. Bereits damals war das Hauptmerkmal des Genres die Verwendung völlig übersteuerter und dadurch komplett verzerrter 808-Kickbässe. Klangfanatiker werden an diesem Genre dementsprechend nur wenig Spaß haben. Gerade mit guter Hardware kann der LoFi-Sound ein echter Abturner sein. Exemplarisch dafür sind die Tracks von SpaceGhostPurrp:
Manchmal ist der musikalische Erfolg nur einen Ozean entfernt: Ende der 2010er-Jahre entdeckten einige russische Produzenten den Phonk für sich. Sie bedienten sich der LoFi-Charakteristik, insbesondere der verzerrten 808-Kickbässe und der Kuhglocken-Sounds und erhöhten das Tempo der Musik etwas - der moderne Drift Phonk war geboren. Der neue Name kam natürlich nicht von ungefähr: In den sozialen Medien wurde die neue alte Musik nämlich bevorzugt in Videos aus der Drifter-Szene vermarktet - also kurz gesagt in Aufnahmen driftender Autos. Der russische Drift Phonk sah sich dabei als ein moderner Gegenentwurf zum „Rare Phonk“ der US-Südstaaten.
Über SoundCloud fanden die ersten Phonk-Tracks von Künstlern wie DJ Yung Vamp oder Soudiere dann weltweite Verbreitung, die Popularität wuchs stetig. Den endgültigen Durchbruch hatte der Drift Phonk letztlich während der Anfänge der COVID-19-Pandemie im Jahr 2020 - nicht einmal ein Jahr nach der erstmaligen Freischaltung von TikTok in Russland.
Von da an ging es für die großen Drift-Phonk-Produzenten nur noch in eine Richtung, nämlich steil nach oben. Aus TikTok waren diverse Phonk-Tracks, die als Hintergrundmusik zu beliebten Clips benutzt wurden, bald nicht mehr wegzudenken - so etwa „Scary Garry“ von Kaito Shoma, der über eine halbe Million Mal benutzt wurde. Und so begann der kometenhafte Aufstieg des einstigen Underground-Genres. Tracks wie „Midnight“ von „Playamane“ gingen schier durch die Decke und verzeichnen bis heute über 100 Millionen Abrufe auf Spotify.
Dass es sogar noch kommerzieller geht, bewies zuletzt der Superstar Sam Smith mit seinem Megahit „Unholy“, der sich ganz extrem der besonderen Charakteristik des Phonk bedient. Einzig beim Kickbass zog das Produzenten-Team um Ilya, Cirkut und Blake Slatkin eine Grenze - die 808 reizt hier zwar die Grenzen eines jeden Lautsprechers aus, übersteuert aber nicht gar so schlimm wie man es noch aus dem Memphis Rap kennt. Die charakteristischen Übersteuerungen bildet hier ein spezieller Synthesizer ganz gezielt und überraschend wohlklingend ab - quasi Übersteuerung in Perfektion. Das Ergebnis? Weit über 500 Millionen Spotify-Streams.
Dass es noch phonkiger (ist das eigentlich ein echtes Wort?) geht, zeigt auf der anderen Seite dieser Phonk-Remix zu „Unholy“ von Dxrk…
;Mittlerweile hat sich die allgemeine Produktionsqualität des Drift Phonk zwar stark verbessert, die übersteuerten 808-Kickbässe bleiben aber als Stilmittel erhalten. Extreme Effekte und Verzerrungen auf den Vocal-Samples machen diese völlig unverständlich und lassen so die Grenzen zwischen Form und Inhalt verschwinden. Die Musik bewegt sich grundsätzlich in Moll-Tonarten und lebt geradezu von ihrer allgegenwärtigen Dissonanz. Melodien sind wenig harmonisch gestaltet und selten länger als zwei Takte. Insgesamt erzeugt Phonk eigentlich viel zu bedrückende Gefühle und negative Stimmungen, um kommerziell erfolgreich zu sein - ist er aber mittlerweile. Und zwar sogar so erfolgreich, dass mittlerweile sogar selbstreferenzielle Coverversionen Erfolg haben: Klassische Memphis-Rap- und Phonk-Produktionen der 1990er und 200er von Künstlern wie DJ Paul wurden mittlerweile mehrfach neu aufgelegt. DJ Paul lizenziert seinen musikalischen Katalog sogar inzwischen an russische Produzenten.
Inzwischen hat sich auch der Drift Phonk in eine Vielzahl von Stilrichtungen gespalten. Während einige Produzenten einen housigen Approach gewagt haben, der an die Downtempo-Produktionen von Dr. Fresch erinnert, bedienen sich andere des Drummings des Drum ‚n‘ Bass oder des Trap. Und trotz aller dieser Unterschiede sind sie alle dank übersteuerter Kickdrums, Kuhglocken und dissonanter Harmonien mehr oder weniger eindeutig dem Phonk zuordenbar. Eine exemplarische Übersicht bietet Spotifys offizielle „phonk“-Playlist (immerhin die wachstumsstärkste Playlist des vergangenen Jahres) mit 100 beliebten und bekannten Tracks aus dem Genre.
Hat euch dieser Ausflug in die Geschichte des Phonk gefallen? Hinterlasst uns gerne euer Feedback in den Kommentaren. Welche trendigen Genres sollen wir als nächstes unter die Lupe nehmen?