In diesem kleinen Review geht es nicht darum jeden Act aufzudröseln, sondern ein paar Eckpunkte zu betrachten. Satter Rock, Chansons und Songwriting gewinnen vor Euro-Dance Hüpfdohlen.
Leise und brav (Übersetzung des Titels) war der italienische Beitrag des ESC nicht. Aus einem Underdog wurde bei den Wettbüros kurz vor Beginn des Finals der Favorit. Das heißt beim ESC jedoch nicht viel. Nach den Jury-Votes lagen noch zwei französischsprachige Songs (Schweiz und Frankreich) vorn, doch mit Abstand am meisten Punkte erhielt Italien von den Zuschauern. Das ist gut. Ein handgemachter, erdiger Rocksong, der viel Seele und Kraft hat, konnte endlich einmal im ESC gewinnen. Klar, die schräge Zombie-Glam-Hard-Rock Nummer von Lordi ist nach 15 Jahren noch immer in aller Munde, doch ein echter Rock-Song in Heimatsprache wäre noch vor einigen Jahren als Siegertitel undenkbar gewesen.
Großbritannien hat für den „Nul Points“ Club einen weiteren Titel nach 2003 geholt. Die letzten null Punkte gab es 2015 für Österreich und Deutschland. Für den Beitrag von Großbritannien war es ein durchaus verdientes Ergebnis. Warum Deutschland auf dem vorletzten Platz kam, ist Jendrik-Artikel beschriebenen. Spanien und die Niederlande sind auch nicht unfair behandelt worden. Große Augen machte San Marino. Der kleine 30.000 Seelen Staat mitten in Italien kaufte sich einfach Stars ein und dachte an eine vordere Platzierung mit „Adrenalina“. Doch der ESC hat andere Regeln. Trotz Senhits Unterstützung von Flo Rida war nur der Platz 22 drin, der ebenfalls berechtigt war. Beide Interpreten schauten etwas bedröppelt aus der Wäsche, als das Zuschauervoting eintraf.
Bevor der Blick auf die Songs geht, ein Absatz zu dem Abstimmungsverhalten. Natürlich brüllte die Halle, mit den 3000 Live-Zuschauern bereits im Chor „Greece, Greece, Greece“, als Cypern die 12 Punkte verteilen sollte und Cypern erhielt die obligatorischen 12 Punkte von Griechenland und ein wenig wurden im Balkan-Bereich die Punkte hin und her geschoben, aber ansonsten war ein ungewöhnlich offenes Abstimmungsverhalten zu sehen. Groß Britannien gab Frankreich 12 Punkte, das habe ich noch nie gesehen. Und auch weitere ungewöhnliche Ergebnisse freuten die Zuschauer, die mehr den Blick auf die Musik als auf die Länder legten.
Irgendetwas passiert gerade mit dem ESC. Ein echter französischer Chanson wird Platz zwei, Schweizer musikalische Kunst wird Platz drei, ein sphärischer Ethno-Song mit treibendem Bass wird Platz 5. Dann noch eine Soul-Nummer, noch ein Rock-Song und ein sozialkritischer Track aus Russland, was für eine reflektierte TOP 10. Erst Platz 10 mit Griechenland ist dann die erste moderne Euro-Dance Nummer. Auch, wenn vorletztes Jahr eine Klavier-Ballade gewonnen hatte und 2017 der Portugiese Salvador Vilar Braamcamp Sobral mit einer komplexen Ballade, überwog trotzdem in den letzten Jahren die oberflächliche Fast-Mood-Music: schrill, knapp, tanzend, simpel.
Die USA haben die Rechte an einer Adaption des ESC erworben. Die Umsetzung der amerikanischen Version wird große Auswirkungen auf den Eurovision Song Contest haben, denn es kann durchaus in die Richtung der Main-Stream-Professionalisierung gehen, dass es ein Chart-Music-Event wird. Andererseits könnte der ESC auch aus dem Habitus der musikalischen Paralympics gezogen werden. Obwohl es das weltweit größte Musik-Medien-Ereignis ist und hervorragende Kompositionen zu finden sind, ist der ESC vom internationalen Musikgeschehen fast unabhängig zu sehen. Das ist schade.
Fazit: Gerade, wenn eine musikalische Erneuerung des ESC anzustehen scheint, muss es Deutschland schaffen sein hohes Potential auf den ESC abzustimmen. Die Ansätze sind bereits umgesetzt, nur der Wille der öffentlich-rechtlichen Sender fehlt noch für ernsthafte Neuerungen. Eine Titelauswahl muss immer im Kontext mit der Außenwirkung von Deutschland auf die Welt gesehen werden. Innerhalb dieser Benchmarks muss ein Titel ausgesucht werden. Dann klappt es auch mit dem nächsten ESC-Gewinn.
Sei der Erste, der hier einen Kommentar schreibt.