"I Don't Feel Hate" von Jendrik.
Der 26-jährige Jendrik Sigwart aus Hamburg ist so etwas wie sympathisch. Er ist für Deutschland bodenständig, da er am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück studiert hat. Er kann Klavier und Geige spielen und sogar singen. Und er ist doch flippig und kräisie genug für den ESC, oder was? Er komponiert auch mit der Ukulele, trägt bunte Kleidung und ist herrlich verrrrückt.
Wie in der o.b.-Werbung der 1980er Jahre kann man auch heute noch sagen: „Die Geschichte des ESC in Deutschland ist eine Geschichte voller Missverständnisse.“ Auch in diesem Jahr hat der Sender des Songs „I don’t feel hate“ die besten Absichten, doch leider wird die ESC-Welt nicht erreicht. Jendrik ist nicht ESC. Der Song erinnert an die dunklen Zeiten nach Raab, die lediglich die Spitze des Eisbergs der letzten Jahrzehnte des Eurovision Song Contests waren. Die Neuorganisation ohne Zuschauer-Voting „Unser Song für…“ tat gut. Es macht keinen Sinn, wenn Ü60-Samstagabend-Linearfernsehzuschauer den Song für das größte Musik-Fest der Welt küren. Deutschland ist eines der wenigen Länder, in dem der ESC ein Nachgeschmack wie „Wetten dass“ anhing: eine TV-Klamotte von Dinosauriern produziert für die Couch-Dinosaurier. Das wurde vor wenigen Jahren aufgebrochen. Gut so. Aber leider ist die Lawine des frischen musikalischen Windes in Deutschland ins Stocken geraten, nicht nur durch Corona.
Ein in lebensbejahenden LGBT-Farben bekleideter Jendrik, mit explodierter Frisur und Haarfarbe, der durch die Gegend hüpft und grinst, wie ein Mops, der gleich Happi-Happi bekommt, ist erst einmal gut für den ESC. Wenn zusätzlich kaum ein anderer Feel-Good-Track im Rennen ist, umso besser. Wenn dann die allgemeine Weltlage einen dynamisch-verrückten Song braucht, noch besser. So werden ESC-Gewinner gemacht. Als alle den Kalten Krieg über hatten, singt 1982 eine Deutsche „Ein bisschen Frieden“ - bäm. Die LGBT steht 2014 auf und Conchita Wurst gewinnt mit dem Sound-Alike-Bond-Titel „Rise Like a Phoenix“ vor dem musikalisch fast genialen „Calm After the Storm“ der Common Linnets (der beste Nicht-Sieger Song des ESC). Der ESC ist immer politisch, obwohl er verpflichtet ist unpolitisch zu sein. 2016 gewinnt, nach dem Einmarsch Russlands auf der Krim, Jamala aus der Ukraine mit dem Song "1944", bei dem nur die Jahreszahlen ausgetauscht hätten werden müssen.
Vielleicht wäre „I don’t feel hate“ genau der richtige Song für den ESC 2021 geworden. Perfekt ausgewählt, um mitzuwippen. Natürlich kommt das „Aber“. Aber die Welt nimmt es den akkuraten, genauen, stocksteifen Deutschen nicht ab. Ein gutaussehendes Mädchen im knappen Schwarzen, das in ausgedachter britischer Mundart beschwingt singt und dabei steif im Takt auf eins und drei wippt kann für Deutschland gewinnen. Wir werden aber einsortiert und da kann kein Musical-Sänger, der von Berufs wegen ohnehin schon überagiert und damit unecht wirkt für Deutschland Punkte holen. Und wenn er dann auch noch mit der Political-Correctness-Keule kommt, wie Fips Assmussen Witze erzählte, dann ist die ESC-Community „not entertainend“.
Wäre Jendrik für die Niederlande oder Dänemark (ich weiß bei Dänemark dieses Jahr übrigens nicht, ob es ernst gemeint ist oder eine Persiflage) angetreten, hätte er vor dem Auftritt eine Valium genommen (dann wäre er noch immer ein Tanzbär auf heißer Platte) und hätte er vorher mit samtweicher und näselnder Stimme „Happy Eurovision“ gesagt, dann hätte er wirklich eine Chance in dem schwachen Jahr gehabt. Nun hoffe ich für Jendrik, dass er nicht so zerrissen wird, wie ich es gerade getan habe, sondern deutlich wird, dass er ein guter Musiker ist, der eine große Bühne braucht (nur ESC ist eben schlecht). Und ich hoffe, dass alle deutschen Verantwortlichen nicht mit angezogener Handbremse Veränderungen weiter umsetzen für die nächsten Jahre.
Fazit: Vielleicht merken es die Chef-Redakteuere nicht. 😉 Da ich sonst keine Möglichkeit habe es zu sagen, mein Tipp! Nicht Malta oder Frankreich werden gewinnen, wie alle sagen, sondern der beste Song. Dieses Jahr tatsächlich mal aus Italien: Måneskin mit "Zitti e buoni".
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