Wann kommt die musikalische Revolution?
Musik ist immer ein Ausdruck einer Generation und Kultur. Über Musik kann sich der Jugendliche von den Eltern und Erwachsenen abgrenzen und auflehnen. Musik war im 20. Jahrhundert das Sprachrohr der Veränderung und Auflehnung gegen bestehende Systeme.
Die Swing Kids im Dritten Reich hörten gemeinsam Jazz und Swing und trafen sich heimlich um nach der Musik der „Feinde“ zu tanzen, um der Militärmusik zu entkommen - unter Gefahren für ihr Leben. Die Beatgeneration, beginnend mit den Beatles lehnte sich, ausgehend vom Nordwesten Englands, gegen die Eltern auf, die sagten: „Wir müssen wieder das zerstörte Land aufbauen, keine Zeit für Spaß.“ Die „Hippiegeneration“ mit dem Eckpunkt des Woodstock-Festivals prangerte den Krieg, insbesondere in Vietnam, an und stand ein für Love and Peace, selbst unter Repressalien durch die Staatsgewalt. In den 1980ern war der Punk mit der Angst um Krieg und Zukunft und dem Slogan „No Future“ gegenwärtig. Etwas differenzierter keimten zwei Strömungen in den 1990ern auf. Der Grunge, als musikalische Aggression gegen die Beliebigkeit in der Gesellschaft und der Rave als kollektiver Ausbruch aus den gesellschaftlichen Bahnen (zumindest für ein Wochenende).
Tja, und der Aufstand der derzeitigen Generation ist Ed Sheeran und sind die neuen Deutschpoeten? Musik, die Emotionen und Gänsehaut erzeugen sind hoch im Kurs. Jeder Hörer fühlt sich persönlich angesprochen und kann sich mit den Harmonien und den Texten irgendwie identifizieren. Nur sind diese Gefühle nicht echt und eigen, sondern professionell und exakt arrangiert mit einem Ziel: Geld verdienen. Das Produkt ist die Musik und vielleicht auch der Künstler, der mittlerweile vom Namen und Gesicht fast austauschbar geworden ist, ob Bosse, Joris, Poisel, Madsen, Max oder Benne, alle plätschern pseudo-tiefgründig dahin, auf Seelenfang bei der zumeist jungen Zuhörerschaft. Böhmermann hat, selbst hoch medienwirksam, schon einmal der Maschinerie den Spiegel vorgehalten, mit dem von Affen ausgewählten Textpassagen im Song „Menschen, Leben, Tanzen, Welt“. Der Guru der Beliebigkeit ist dabei Ed Sheeran. Ohne Aussage eine Aussage treffen, nimmt derzeit weltweit eine Generation mit. „Feel Good“ oder „Feel Bad“ ist unerheblich, Hauptsache ist überhaupt etwas zu fühlen, auch, wenn es mittlerweile selbst bei Sheeran aus der Retorte, mit riesiger Musikindustrie-Maschinerie ist.
Diese musikalische Kultur der Abzieh-Emotionen ist wie ein Nikotionpflaster: aufgeklebt, kurz die Sucht nach Gefühlen befriedigt und wieder abgerissen. Und sie passt zu den Massenmedien, die auf Content ausgelegt sind, auf Selbstdarstellung in der Menge und zugleich Vereinsamung des Individuums. Die Musik ist nicht gemacht für eine „Jilted Generation“ (The Prodigy 1994) oder die Wut der Jugend über auch nur irgendetwas. Die Musik ist konzipiert, um jeden einzelnen Zuhörer gefügig zu halten. Es soll nicht verschwörungstheoretisch klingen, damit uns eine Macht besser leiten kann, oder so, sondern schlicht und allein marktwirtschaftlich gedacht, um das nächste Produkt, den nächsten Song wieder verkaufen zu können. Musik ohne Seele und nur Emotionen bedienend. Klingelt es? Genauso funktioniert derzeit auch Politik. Nachdem die Politiker keine Themen mehr haben, für die sie mit ganzem Einsatz kämpfen, sondern lediglich Aussagen verwalten und dabei versuchen die eigene Macht zu erhalten, durch eine Wiederwahl, ist auch die Politik dazu verkommen die Emotionen des Einzelnen zu bedienen. Kleine Pöbelparteien benutzen die „Feel Bad“ Strategie und bedienen - ohne Hintergründe und Fakten - die Ängste jedes Einzelnen und erreichen damit unglaublichen Zulauf. Wiederum nur Emotionen, ohne Inhalt und trotzdem funktioniert es.
Vielleicht vermisst jemand nun die großen EDM-Festivals, die wie eine Jugendbewegung aussehen. Ja, diese Veranstaltungen sind tatsächlich das, was die neue Generation braucht. Heraus aus der medialen Isolation, hinein in ein gemeinschaftliches Erleben und Tun. Das ist auch der Grund, warum nach dem Festivalsterben der 1990er nun auch wieder kleine und besondere Festivals wiederbelebt oder neu ins Leben gerufen werden. Doch auch an Megaveranstaltungen der EDM-Szene kann Individualisierung abgelesen werden. Super-Stars legen Musik auf, die wiederum nur auf Emotionen angelegt sind, nämlich Beats und Rhythmen. Texte werden, bis auf unwichtige Top-Lines ganz weggelassen. Letztlich ist das aber die Grundidee der Musik. Wer sich Ureinwohner ansieht, die wenig Kontakt zur Außenwelt haben, findet genau dies: Beats und Rhythmen, um gemeinsam in eine musikalische Trance zu fallen, ein Akt der Gemeinschaft, aber individuell erlebt von jedem Einzelnen.
Dennoch sind diese Festivals keine Aussage einer Generation. Erst, wenn etwas die Jugend so aufrüttelt, dass sie sich gemeinsam gegen das bestehende System auflehnt, dann wird es auch eine neue musikalische Revolution geben. Ein bisschen „Hambacher-Forst“ um sich in der „Feel-Bad“ Situation gut und stark zu fühlen reicht nicht. Ein Naturaktivisten-Leuchtturmprojekt ist zwar ganz nett, um kurz mediale Aufmerksamkeit zu erreichen, doch werden parallel Baumbestände in zig-facher Menge für andere Energieprojekte in Deutschland gerodet. Wenn aber die junge Generation erkennt, dass ein gemeinsamer Kampf zum Beispiel gegen Plastikverpackungen funktioniert, dann ist das der Start zu einer ökologischen Revolution. Und dies wird sich auch in einer von der Musikindustrie unabhängigen Musikentwicklung zeigen. Dazu müssen wir jedoch erst einmal die derzeitige Despoten-Schwemme auf der Welt überleben und gegen die Politikverdrossenheit durch Inhalte ankämpfen. Also, drücken wir uns die Daumen.
Marco Boehm
(dies ist ein Kommentar und somit Meinung des Autors, nicht zwangsläufig der Redaktion)