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Im Kopf eines Stars

Ein Abend mit David Guetta

(Geschätzte Lesezeit: 6 - 11 Minuten)

Ein Abend mit David GuettaNummer-Eins-DJ David Guetta.

„Erfolg kann süchtig machen.“ Ich blicke ihm in die Augen. Jedenfalls so gut in die Augen, wie man jemandem durch einen Bildschirm in die Augen blicken kann. Es ist Anfang November und gegen 19 Uhr. Seine Worte haben dieses Gewicht. Ein Gewicht, das man meinem Satz nicht beigemessen hätte, hätte ich genau dasselbe gesagt. Wir befinden uns in einem Zoom-Meeting. In der E-Mail hieß es, David Guetta - derjenige, aus dessen Mund diese Worte stammten - wolle eine aufregende Neuigkeit mit uns teilen. Ich erwartete dementsprechend eine Pressekonferenz, die alle Punkte auf der Checkliste des How-To „PR“ abhakte. Doch ich täuschte mich. David Guetta wollte keine Werbung für seinen zwei jüngsten Preise machen. Schließlich hatte er sich an nur einem Wochenende zum zweiten Mal in seiner Karriere den ersten Platz beim DJ Mag Top 100-Voting sichern können und obendrauf einen MTV Europe Music Award als „Best Electronic“ erhalten. Doch darum sollte es nur am Rande gehen.

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Tränen im Hotelzimmer

Er wollte mit uns ins Gespräch kommen und kritisch über die EDM-Szene diskutieren. „Das gehört dazu. Ich kann mich gut damit abfinden, manchmal erfolgreich und manchmal eben nicht erfolgreich zu sein.“ Problematisch werde es nur dann, wenn man sich in einer Phase des Lebens befindet, in der man die Weichen stellen muss. „Wenn du ein paar Stunden nach der Show auf dem Bett deines Hotelzimmers liegst und das Adrenalin abklingt, dann realisierst du, dass du deine Familie sechs Monate nicht gesehen hast.“ Wieder schimmern seine Augen. Sein PR-Gesichtsausdruck, den man auf Postern und in Musikvideos betrachten kann, weicht einer nachdenklichen Miene. „Aber das habe ich zum Glück bereits hinter mir.“ Er lächelt ehrlich. Ein anderer Journalist fragt ihn, woher er das wisse und ob er keine Angst habe, dass diese Phasen zurückkommen könnten. „Ich weiß es, weil ich mit euch darüber reden kann.“, antwortete Guetta. „Wenn du dich so fühlst wie ich damals und viele andere DJs, kannst du mit niemandem darüber reden. Sie können es einfach nicht nachvollziehen. Ich möchte niemandem unterstellen, nicht hart zu arbeiten. Aber an einem Tag leisten wir oft das, was andere in einer Woche schaffen.“ Aus jedem anderen Mund hätte ich das als maßlose Selbstüberschätzung gewertet. Doch David Guetta meint es ernst. Es wirkt so, als hätten wir Medienvertreter uns telepathisch verständigt und kollektiv entschieden, dass es an seiner Aussage keinen Zweifel gibt. „Dabei geholfen hat mir ausgerechnet der Tod meines Freundes Avicii. Ich erinnere mich an viele Abende, an denen wir [die anderen Star-DJs] mit ihm über den ganzen Stress, das Touren, die Bühne, die Fans, die Erwartungen und all den Druck geredet haben. Nach seinem Ableben habe ich entschieden, weniger zu touren und mich mehr um meine Familie zu kümmern.“


Das Virus

Für wenigen Sekunden scheint Guetta hin und wieder zu vergessen, dass es zu unserem Job gehört, bestens über ihn informiert zu sein. Wie einer von hundert Bewerbern auf nur eine Stelle erzählt er uns, dass er durch das Corona-Virus die Möglichkeit hatte, mit seinen Kindern Sommerurlaub zu machen. „Das habe ich zuvor noch nie gekonnt. Immer war ich all die Jahre über irgendwo zwischen Frankreich und Ibiza, den USA und Asien oder der Mainstage und dem Backstage.“ Wir alle nicken, ohne nachvollziehen zu können, wie sich das wohl anfühlen muss. Doch er wolle in dieser schwierigen Phase für die Welt nicht nur an sich denken. Die kleineren DJs, Techniker, Club-Betreiber und Co hätten nicht die Rücklagen, um ein ganzes Jahr ohne Einkommen zu überstehen. „Ich habe wirklich Angst, was passieren würde, wenn das Coronavirus einfach nicht verschwindet. Würden die Leute dann ihre Einstellung ändern? Bräuchte man uns in der Eventbranche überhaupt noch?“ Ein besorgter Ausdruck liegt auf seinem Gesicht. Guetta spielt nicht den empathischen Superstar. Er meint es so, wie er es gesagt hat. „Heute habe ich eine Nachricht erhalten, die mich unendlich glücklich gemacht hat. Habt ihr das gelesen? Die haben einen Impfstoff mit - habt ihr das bei mir auf Instagram gesehen? - einen Impfstoff mit 90% Wirksamkeit entwickelt!“ Jetzt strahlt er wie auf den Postern und in den TV-Spots.

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Ich frage ihn, ob er glaubt, dass nach der Krise nur noch die A-Liga-DJs übrig sein werden, weil den Kleineren die finanziellen Ressourcen gefehlt haben, um mit Livestreams Weltrekorde aufzustellen. Außerdem möchte ich wissen, ob das einen Reset für die Szene und den übersättigten EDM-Markt bedeuten könnte. „Puh. Also ich finde, dass sich einige meiner Kollegen, von denen ich weiß, dass sie das Geld haben, zu sehr ausgeruht haben. Ich arbeite in diesen Monaten härter als je zuvor und es macht mir unglaublich viel Spaß. Jeden Tag sitze ich von morgens bis abends im Studio und versuche, diesen neuen Future-Rave-Sound von MORTEN und mir auf das nächste Level zu heben. Es kann nicht unser Anspruch sein, sonst auf dem Tomorrowland auflegen zu wollen, aber dann aus seinem Schlafzimmer zu streamen.“ Ich nicke zustimmend. „Was die nächste Generation betrifft - es kommt immer darauf an, warum du dort oben stehen möchtest. Machst du es, weil du Drogen nehmen und viele Frauen am Hals haben willst? Oder machst du es, weil du die Musik und das Auflegen liebst? Ich bin überzeugt, dass nur Letztere langfristig Erfolg haben.“


Future Rave

Guetta & MORTENWer sich mit dem Franzosen tiefergehend beschäftigt hat, der weiß, dass seine musikalischen Wurzeln weit zurückreichen. Von Clubs in Frankreich bis zu seinem ersten Gig auf Ibiza überzeugte er durch sein Talent an den Decks. Noch bevor er auch nur einen seiner etlichen Welthits veröffentlicht hatte, schien der “Titanium“-Produzent das Gespür zu haben, was die Leute hören wollen. „Damals gab es noch keine EDM. Es gab noch nicht mal Hip-Hop! Ich habe Disco, Funk und Soul gespielt. Ich dachte mir immer: Warum ist dieser Sound so cool, aber trotzdem im Untergrund? Erst später habe ich verstanden, dass es viele der DJs so wollten. Ich hingegen wollte niemals underground sein. Ich wollte, dass die Welt meine Musik hört. Bis heute hassen mich viele Trance-Fans dafür, dass ich ihre Legenden bei meinem ersten DJ Mag Top 100-Sieg sozusagen vom Thron gestoßen habe.“ David Guetta lacht herzlich in die Kamera. „Der Underground von heute ist die Pop-Musik von morgen. Das weiß nach FISHER und Chris Lake jeder.“ Gemeint ist der überraschende Tech-House-Welthit „Losing It“ aus dem Jahr 2018. Während er sich anfangs noch auf eine Art Interview mit den Mainstream-Medien eingestellt hatte, hatte er seine Aussagen mittlerweile dem Umstand angepasst, dass alle Anwesenden Teil des Kerns der elektronischen Szene sind. Wir fragen nicht, wie es sich anfühlte, vor so vielen Leuten aufzutreten, denn diese Frage wurde ihm vermutlich häufiger gestellt als Praktiker 20% auf alles anbot. Man sieht ihm an, dass er Spaß an der Sache gewonnen hat und es zu einem willkommenen Austausch zwischen Anhängern derselben Leidenschaft herangewachsen war. Keiner hat mehr das Gefühl, ein Frage-Antwort-Spiel spielen zu müssen.

„Ich möchte mich mehr auf den Club-Sound fokussieren. Darum habe ich mit MORTEN Future Rave entwickelt. Ich liebe diesen Sound. Da ist immer diese eine Sache, die ich an Trance nicht leiden kann. Manchmal war es zu cheesy oder der Track hat einfach nicht gegroovet. Melodic Techno hingegen ist meiner Meinung nach die bessere Version von Trance. Kombinierst du beides, also nimmst du die Emotionen von Trance und das Treibende vom Techno, dann hast du das Rezept, mit dem ich Future Rave kreiert habe.“ Das Genre habe er mit MORTEN bereits weiterentwickelt. Das stimmt. Hört man sich “Never Be Alone“ - die erste Single in dem neuen Gewand aus dem Jahr 2019 - an und vergleicht sie mit der aktuellen “Kill Me Slow“, lässt sich die technoide Entwicklung gut nachvollziehen. Er habe in den letzten Wochen auch viel Zeit auf Ibiza verbracht. „Dort habe ich nun den Sound für Jack Back gefunden.“ Der Familienvater bezieht sich auf sein Side-Project, auf dem er Tech-House - mal mehr, mal weniger tanzbar, aber stets mit der gewissen Prise Ibiza - veröffentlicht. Auf beiden Projekten stehe neue Musik in den Startlöchern.


Mehr als ein Preis

„Viele werden mir das nicht glauben - genauso wie mir einige nicht glauben, dass ich live auflege oder selbst produziere -, aber die Nummer eins zu werden, hat mich unglaublich stolz gemacht. Ich bin der Szene noch immer, vielleicht mehr denn je, tief verbunden. Bei meinem ersten Sieg 2011 war ich nicht stolz, da bin ich ehrlich. Zu dem Zeitpunkt hatte ich doch schon viele Hits. Es fühlte sich zu spät an. Diesmal wurde ich von den Fans dafür belohnt, dass ich mich etwas getraut habe. Und damit will ich auch weitermachen.“ Ich bin überrascht. Ein David Guetta, Grammy-, MTV EMA- und Echo-Gewinner, freut sich über eine Auszeichnung, von der womöglich niemand außerhalb der Szene je gehört hat? Ja, Guetta grinst wie ein Honigkuchenpferd. „Ich muss sagen, dass dieses hier eines der coolsten Interviews ist, die ich je geführt habe. Endlich mal keine oberflächlichen Fragen, sondern eine echte Diskussion mit Leuten, die wissen, wovon sie sprechen!“ Für viele, mich inklusive, fühlt es sich wie ein Ritterschlag an. Nach den Erkenntnissen der vergangenen Stunden ist mir klar, dass dieser Satz seinen Ursprung nicht auf der How-To-„PR“-Checkliste hat, sondern in seinem Herzen.

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Wir sprechen über den Tag der Überreichung des DJ-Mag-Top-100-Awards. „Auf mein Set dort bin ich genauso stolz. Ich war total aufgeregt, bevor es losging. Jedes Mal, wenn ich ein oder zwei Wochen nicht aufgelegt habe, bin ich super nervös, weil ich Angst habe, dass ich alles über’s DJing vergessen haben könnte. Und dann auch noch diese neue Technik von Pioneer, die ich unbedingt in mein Set integrieren wollte. Die Key-Shift-Funktion ist etwas, das sich jeder DJ gewünscht hat.“ Leidenschaftlich fachsimpelt er über die Umsetzung der neuen Funktionen im CDJ 3000. David Guetta ist kein Hochstapler, sondern ein Produzent und DJ, der sein Hobby zum Beruf machen konnte, und ganz nebenbei zum Weltstar mutierte. Aus diesem Grund ist er bodenständig. Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass es deutlich kleinere Acts gibt, die meinen, die Welt liege ihnen zu Füßen.

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TikTok - mehr als ein Song von Ke$ha

Auf den Anreiz eines Kollegen hin, was der Franzose von dem Einfluss seitens Social-Media auf die Musik halte, legt er eine kurze Denkpause ein. „Die Macht und den Einfluss auf Musiker wie mich kann niemand bestreiten. Wenn ich einen Pop-Song mit meinem guten Freund Giorgio [Tuinfort] komponiere, dann habe ich TikTok im Hinterkopf. Wenn ich einen Dance-Track produziere, sicherlich nicht. Insbesondere diese Plattform hat das Hörverhalten der Menschen verändert. Innerhalb von zehn Sekunden muss dein Lied bereits ein Hit sein. Sonst hört es sich niemand an.“ Songs wie “Toosie Slide“ von Drake illustrieren das Beschriebene. Die Komposition ist darauf ausgerichtet, in Clips nachgetanzt zu werden. Auch Loredana konnte hierzulande mit „Jetzt rufst du an“ diesen Trend bestätigen. „Dadurch entstehen Dance-Nummern, zu denen keiner dancen möchte. Ist das nicht seltsam? Spiel mal als DJ die ersten zehn Lieder in den großen Spotify-Playlists. Nach spätestens fünfzehn Minuten sind alle nach Hause gegangen. Ich finde das aber nicht schlimm. Nicht das Format sollte Musik bestimmen, sondern die Leute sollten es. Dazu gehören einerseits die Produzenten wie ich und andererseits die Zuhörer. Am besten ist eine gesunde Balance zwischen beiden Faktoren.“ Im Anschluss fügt die neue Nummer eins hinzu, dass er aus diesem Grund weiterhin jeden Kanal nutzen werde, der ihm zur Verfügung steht, um seine Musik zu promoten.


Eine Ikone

David Guetta Ikone„Jetzt habe ich mal eine Frage an euch. Welchen Künstler oder welche Songs sollte ich mir mal anhören, die eurer Ansicht nach frischen Wind bringen?“ Unsere Antworten sollen wir in den Zoom-Chat schreiben. Sorgfältig screenshottet Guetta jede Nachricht, um sich den Inhalt nachher im Studio anzuhören.

Nach Stunden des Austausches wird es langsam Zeit, den bekanntesten DJ unserer Zeit in seinen wohlverdienten Feierabend zu entlassen. Wer das Privileg hat, regelmäßig mit großen Namen mal vor, mal hinter der Kamera oder dem Mikrofon sprechen zu können, der entwickelt ein Gespür dafür, ob er lediglich vom Produkt oder der Person dahinter Fan ist. Mit einem raschen Blick auf die David-Guetta-Alben, die ich am Tag der Veröffentlichung auf CD erwarb, bin ich mir nach diesem Abend sicherer denn je: David Guetta ist mehr als nur eine Ikone.

Die aktuelle Single "Let's Love" von David Guetta zusammen mit Sia gibt es ab sofort in allen Stores und Streaming-Plattformen. Hier findest du David Guetta auf Instagram und hier auf Facebook.

 

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    A.J. · Vor 3 Jahren
    Super Artikel, richtig lesenswert! Danke dafür!
  • This commment is unpublished.
    Flo · Vor 3 Jahren
    Sehr toller und interessanter Artikel!!
Über den Autor
Jonas Vieten

Ich bin Jonas Vieten und seit Oktober 2017 Teil der Redaktion. Bereits als Leser habe ich mich täglich auf neue Artikel und News rund um EDM gefreut. Nun auf der Seite der Verfasser sein zu dürfen, macht mich sehr froh. Ich hoffe, eines Tages im Musik-Business - bevorzugt als DJ - arbeiten zu können. Neben Bigroom-Feuerwerk oder chilligen Future-House-Beats können Film-Soundtracks mich ebenfalls begeistern.

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