Eigentlich hatte ich mir vorgenommen dran vorbeizuhören, am deutschen Vorentscheid zum weltweit größten Musik-Contest. Der Eurovision Song Contest ist mit 160 Millionen Zuschauern ein wichtiger jährlicher Eckpunkt auf dem musikalischen Globus.
So sehr der ESC in Deutschland einen musikalischen Versehrtenstatus besitzt und als so verstaubt und überholt wie „Wetten dass …“ angesehen wird, ist in der restlichen Welt diese Mega-Show prägend für schlechte Outfits, politische Aussagen (obwohl alles auf dem Papier unpolitisch sein muss), Förderung der LGBTQ-Offenheit, viel Spaß, aber auch Musik-Trends. Der Wettbewerb der Liedermacher wird durch das Schrille manchmal überlagert, doch im Hintergrund arbeiten die weltweit größten Producer und Composer an den Songs der unterschiedlichen Länder für den ESC.
Rund um den Stefan Raab Hype hätte Deutschland fast den Schalter gefunden den ESC doch in der Wichtigkeit zu begreifen und eine Eigendynamik zu entwickeln. Alles gipfelte im Sieg von Lena mit „Sattelite“ und vielleicht noch der ESC-Show in Düsseldorf 2012. Seit über zehn Jahren ist musikalisches Schweigen. Kurz gab es aus der „Flatline“ eine Puls-Spitze mit Michael Schultes 2018er „You Let Me Walk Alone“, um dann wieder ein gleichbleibendes, leises Piepen zu erzeugen.
Das Problem ist, das ein deutscher Beitrag nicht versuchen darf, international zu klingen, da wir als „die auf 1 und 3 klatschenden Kartoffelköpfe“ gelten. Das Internationale kauft uns niemand ab. Wir müssen echt sein, so mitten in Europa gefangen. Selbst die besten Producer können uns nicht helfen, wenn letztlich immer noch öffentlich-rechtliche Ohren den Song „für den deutschen und internationalen Markt“ gleichzuschalten versuchen. Damit wird der letzte Funken Leben aus jedem Song getrimmt.
Ich bin es so leid ein solcher Pessimist in Sachen ESC und deutsche Beiträge zu sein. Und das wird uns, als Deutsche, auch oft als unsere Schwäche vorgeworfen: Wir müssen unsere Leistungsträger, unsere Ideale, unsere Bildung, unser Land supporten und nicht immer schlecht reden. Ja. Das stimmt! Doch da ich unser musikalisches Potential, auch in Sachen Eurovision Song Contest kenne und ich sehe, dass es zu 0,86% ausgeschöpft wird, macht es mich traurig und wütend. Es ist nicht das erste Mal, dass die Diskrepanz besteht; es ist nicht das erste Mal, dass darüber diskutiert wird, was geändert werden muss, um im ESC mitschwingen zu können. Das macht kraftlos. Schauen wir mal, was dieses Jahr so läuft.
TRONG - "Dare To Be Different"
548 Einreichungen über die Eurovision Website und 900 Videos mit dem richtigen Hashtag auf TikTok und diese Hupfdohlen mit 2000er Bohlen-Groove sind dabei. Uff.
„Uff“ als komplette Rezension ist natürlich gemein, denn hinter jedem Künstler steht eine Geschichte und oft viel Professionalität. Deutscher Hip-Hop Meister, Ausbildung am Music College Hannover und Sieger bei „Vietnam Idol“ sind fette Pfunde auf der Haben-Seite. Auch wenn TRONGs Lebenslauf gut zum Titel (riskieren anders zu sein) geschrieben werden kann, ist doch der Song auf ESC-Hochglanz getrimmt und fällt durch den Ohrwurm-Test.
Will Church - "Hold On"
Mit langen Haaren und Löwenherz-Vollbart barfuß in Zeitlupe durch Wälder streifen, das ist schon Emotion. Ich habe nicht gegoogelt. Aber bei Will Church fällt mir sofort ein, dass jemand seinen profanen deutschen Namen schicker machen möchte. Ich glaube an Wilfried Kirch. Klassische ESC-Pop-Ballade. Gute, sympathische Stimme, aber schon tausend Mal gehörte Durchschnitts-Ballade, die Wilfried Kirch sicher auch nur als Dienstleister sang, weil es ihm gesagt wurde. Puh.
Lonely Spring - "Misfit"
“Los”, sagten die öffentlich-rechtlichen Entscheider, „wir nehmen einfach die ‚Zitti e Buoni‘ Look-Close-Enough-Band, die einen auf nette ‚Green Day‘ machen und können jedenfalls sagen, dass wir für alle etwas dabeihaben.“ Etwas zu gewollt auf ’aufmüpfig‘ getrimmt, aber in Ordnung. Gehört für mich in den TOP 3 Kandidaten-Kreis den Vorentscheid zu gewinnen. Ein bisschen rotzig, viel britischer Pub-Pop-Punk. Das könnte gehen.
Patty Gurdy - "Melodies Of Hope"
„Leuchte jetzt hell, nur die Liebe führt uns.“ Noch Fragen? Wenn die Hurdy-Gurdy (so heißt die Drehleier) kommt, dann ist der keltische Chart-Folklore-Pop unausweichlich. Dieser Song hält sich erst ein bisschen mehr zurück, als ob er sich nicht die volle Breitseite ‚Faun‘ trauen würde, kann sich dann aber nicht mehr halten und wird mit nervigen Euro-Nu-Dance-Beats unterlegt. Kann live Spaß bereiten, wie ‚Santiano‘ im Shanty-Rock-Bereich, ist aber immer etwas konservig und gewollt.
Lord Of The Lost - "Blood & Glitter"
Die finnischen 12 Punkte für ‚HIM‘-Anhänger sind schon einmal sicher. Ein bisschen zu overdressed für den Gothic-Pop (oder genau richtig für den ESC?), aber neben allen Chart-Registern ist es doch anders und ich weiß, dass diese Band kein Casting-Produkt ist, sondern eine professionelle Band-Biographie dahinter steht. Mit vielen Auftritten und fetter Fan-Base. Erfolgreiche deutsche Musikexporte sind allgemeinhin hart, düster, frontal. Somit nimmt auch ESC-Europa diese Musik den Deutschen ab. Schön trans-lastiges Outfit, poppige Beat-Stringenz und doch öffentlich-rechtlicher, böser Outcome. Wenn es die Band durch den Vorentscheid schafft, dann gibt es mehr als Zero Points. Ich vermute dann sogar ein Abschneiden im oberen Mittelfeld - plus X.
Ikke Hüftgold: "Lied mit gutem Text"
Das ist OK. Genügend ESC-Frustrierte stimmen per Klick gegen das bestehende ESC-System. Gut so. Wieder ein Erfolg für den Familienvater, der als Ikke eine so herrliche Rolle spielt. Mallorca 2023 ist für ihn sicherlich bereits seit „Layla“ ausgebucht. Aber der Antiheld ist der Retter des schrägen Schlagers. Es kann gut sein, dass Ikke Hüftgold als Vertreter gewählt wird, etwas mehr Musikalisches wäre aber doch ganz schicki-micki.
Frida Gold - "Alle Frauen in mir sind müde"
Frida Gold ist eine gewachsene Band mit Sängerin Alina Süggeler. Frida Gold steht jedoch hier für mich als ein Beispiel für die Gefahren der Musikindustrie. Eine Marionette, die so verkauft wird, als wäre sie emotional und tiefgründig. Dabei geht es nur darum scheinbare Emotionen und Tiefgründigkeit zu erzeugen, um möglichst viele Verkäufe und Streams zu erzeugen. Sie sind ein Produkt, das durch die Musik, wie eine Werbeanzeige, vermarktet wird. Gefährlich daran ist, dass viele Menschen glauben, darin einen persönlichen Bezug zu erkennen und somit lenk- und leitbar werden. Auch Frida Gold stehen für eine Maschinerie (wie fast alle großen deutschen „Künstler“ in den Charts), als moderne „Brot und Spiele“.
Anica Russo - "Once Upon A Dream"
Ganz ehrlich. Das ist die Musikerin, die ich mir für den ESC wünsche. Singer-Songwriter, schreibt die Songs selbst, hat im Eigenverlag veröffentlicht, um sich nicht reinreden zu lassen, hat europäische Wurzeln. Cool. Leider ist der Song langweilig und irgendwie pastoral.
René Miller - "Concrete Heart"
German Songwriting Award 2018, seit dem in Song-Writing-Collabs, Studiotime in London. Das ist der Shit, aus dem ESC-Writer sind. Und was macht Renè Miller für sich selbst? Einen balladigen Ohr-Flop mit 30-Sekunden-Wiedererkennung. Schade.
Am 03. März findet der Vorentscheid „Unser Lied für Liverpool“ in Köln statt. Barbara Schöneberger - als Dauermoderatorin - kann man wohl nicht rausvoten, aber dafür ist die Uhrzeit von 22:20 Uhr sinnvoll gewählt. Hier wird die 60plus Wählerschaft vor dem linearen Fernseher ausgebremst, die sonst am Freitagabend die Mitschunkel-Songs in den ESC telefoniert haben. Um 22:20 Uhr kann davon ausgegangen werden, dass tatsächlich die Menschen einschalten, die am ESC interessiert sind. Eine Verzerrung des Votings soll zudem vorgebeugt werden, indem nur einmal eine Stimme abgegeben werden kann. Und dies bereits jetzt, bis zum 03. März um 22 Uhr. Somit wird nicht die Live-Performance gewählt, sondern die Präsenz und der Song im Vorfeld. Die Idee klingt schon einmal gut. Langsam wird es also spannend, wer Deutschland beim ESC vertritt - ob Tongraupengrütze oder doch der Beginn einer neuen ESC-Ära?
Fazit: Der deutsche Vorentscheid hat viele Ohr-Flops zu bieten. Viele gute Musikerinnen und Musiker lassen ihr Potential, im Sinne der falschen Idee an Internationalität, liegen. Wenn nicht Ikke Hüftgold als Frustwahl gewinnt, wird es „Lord Of The Lost“, die die richtige ESC-Mischung mitbringen könnten. Zu gönnen ist es auch „Lonely Spring“, um ein Schippchen Dreck nach Liverpool zu tragen.
(Dies ist die Sichtweise des Autors und spiegelt nicht die Meinung der Redaktion wider. 😉)