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Review zum ESC 2016 - ZWÖLF

Eurovision Song Contest 2016: Punktesystem, Politik & Plagiat

(Geschätzte Lesezeit: 3 - 6 Minuten)

Eurovision Song Contest 2016: Punktesystem, Politik & PlagiatBild: Marco Boehm

Was bleibt vom Eurovision Song Contest 2016? Auf den Punkt gebracht sind es wohl folgende Schlagworte: Punktesystem, Politik und Plagiat. Eigentlich sind das keine neuen Schlagworte, denn jedes Jahr geht es genau darum; mal mehr und mal weniger. Doch kurz innegehalten und die Zeit zurückgedreht: Vor genau 60 Jahren war der ESC die Idee eines gemeinsamen und friedlichen Miteinanders in einem Liedermacherwettstreit. Im erweiterten Europa - das heute sogar bis Australien reicht - traten Songwriter und Komponisten für ein Land musikalisch gegeneinander an. Mittlerweile, in der 61sten Ausgabe, ist es der am längsten laufende TV-Wettbewerb, das größte weltweite Musikevent und die zweitgrößte jährliche TV-Show der Welt (nach dem Super-Bowl).


Germany 12 Points - ach nee, insgesamt 11

Dass dem ESC in Deutschland ein fieser Oma-Muff anhängt liegt an den verplanten 1980er und 1990er Jahren und der konservativ-strukturierten ARD. Was ein einziger Kreativkopf (mit Anhang) erreichen kann, zeigte Stefan Raab in den 2000ern selbst und mit gefeaturten Sängern, bis hin zu Lena. Doch die ARD zog keine Lehren aus ihrem Vorgehen. Null Punkte im letzten Jahr und ein erneuter letzter Platz in diesem Jahr sind die vernünftige Quittung dafür. Sicherlich kann man nun Haare spalten und ein „Anti-Deutsches-Voting-Verhalten“ in Europa unterstellen, doch mehr als das untere, nichtssagende Mittelfeld wäre auch bei Wohlwollen nicht für - wie hieß sie noch, ach schon vergessen - Jamie-Lee nicht drin gewesen. Dass die junge Sängerin singen kann, hat sie ja in nationalen Wettbewerben mit Erfolg unter Beweis gestellt. Doch nun begann der leidliche öffentliche-rechtliche Kreativverfall. Sicherlich hat ein Entscheider so etwas gesagt, wie: „Für den ESC brauchen wir ein freches Outfit, um aufzufallen.“  Dass daraus ein Hänsel und Gretel meet Alice im Wunderland mit asiatischem Einschlag wurde, zeigt einmal mehr, den preußischen Stock im Arsch, wenn es um Zeitgeist und Kreativität geht. Dass Raabs Ex-Firma (Brainpool) nach dem Naidoo-Debakel mit eingekauft wurde, konnte auch nichts an der Struktur ändern. Wenn dann noch der Producer im finalen Mastering auf dem Pitch-Regler einschläft und die BPMs auf Handbremsen-Niveau setzt, kann ich nicht nachvollziehen, warum mir dieses Jahr so viele Deutsche sagten: „Ja, aber die Jamie-Lee, die kommt weit, dieses Jahr.“ Wahrscheinlich hatten sie die charmante Bühnenpräsenz bei „The Voice“ noch im Hinterkopf, die jedoch im Laufe der ESC-Vorbereitungen gekonnt wegperfektioniert wurde.


Ukraine tritt in Russlands großen Hintern

Was ist das für eine Diskussion, ob es eine politische Entscheidung war, dass die Ukraine gewonnen hat. Natürlich war es das, so, wie jedes Jahr. Die Entscheidungen des Televotings und (!) der Jurys bestehen immer aus den unbewussten politisch-gesellschaftlichen Strömungen des Jahres (Unruheherde, Life-Style, Ereignisse), den para-bewussten Entscheidungen (dem Land nebenan gebe ich mehr Punkte, die schicke Hüpfdohle war doch gar nicht so schlecht) und den bewussten Entscheidungen (wie kann ich meinem Unmut Luft machen oder wie kann ich eine Idee forcieren).

Wenn nun die EBU (European Broadcasting Union) den Song „1944“ der Ukraine als unpolitisch einstuft (das ist Voraussetzung für die Teilnahme), da es um familiäre Erlebnisse bei der Schlacht um die Krim im Zweiten Weltkrieg geht, dann muss man kein Historiker sein, um zu erkennen, dass es sich um eine Metapher der Krim-Annexion und des Konfliktes mit Russlands seit 2014 handelt.

Wenn dann das auf allen Ebenen durchgestylte Lied aus Russland nicht gewinnt, dann wittert Putin (wie immer, wenn ihm etwas nicht passt) ein Komplott. Russland führt an, dass sie nur 130 Jury-Punkte erhalten haben, aber dafür 361 Zuschauerpunkte und die Schere doch für ein Komplott spräche. Dazu möchte ich dann Putin fragen, an welchem Komplott Polen beteiligt ist? Sie waren mit 7 Jurypunkten auf dem vorletzten Platz und erhielten mit 222 Zuschauerpunkten die drittmeisten Stimmen. Ein transparenteres Voting, so wie es in diesem Jahr eingeführt wurde, macht einfach deutlich, dass Fachleute der Jury Songs unter anderen Aspekten sehen als die Zuschauer. Ein flotter Song aus dem Eurodance-Generator mit dauergrinsendem Interpret und bombastischer Bühnenshow ist dennoch ein langweiliger Song. Dafür hat Russland nicht mehr Punkte von der Jury verdient. Dass das Spektakel die Zuschauer geflasht hat, ist klar, womit mehr Punkte hier zusammenkommen.

Der ukrainische Song war eigen. Es war kein Brett, das zum Tanzen einlädt. 1990er Jahre Break-Beats untermalen die Ballade. Beides passt nicht zusammen und doch wird der Zuhörer berührt. Letztlich kein Grund für den ersten Platz, doch nun kommen die Televotes dazu. Die Menschen, die für Frieden und die Menschen, die für David und gegen Goliath sind haben schon mal für die Ukraine angerufen. Nun ist der ESC die größte Veranstaltung der Homosexuellen-Szene. Wie kann sich die Gay-Community gegen die schwulen-feindlichen Aktionen Russlands wehren? Sie wählen die Ukraine, gerade in Russland selbst. Wenn echte freie Wahlen weit entfernt sind, dann gibt es doch den freien ESC. Anders sind die 0 Punkte aus Russland für Ukraine als Jury-Voting und die 10 (von 12 Punkten) des Televotings schwierig zu erklären (apropos Komplott, Herr Putin).

Die Stimmung in der Arena zeigte ganz klar, dass der Gewinn der Ukraine nicht nur ein Zeichen für den Frieden war, sondern auch für die Rechte der Homosexuellen (in Russland). Obwohl der Song bereits vor der offiziellen Deadline präsentiert wurde, er nicht sonderlich stark ist und zudem politisch, geht ein Sieg für die Ukraine in Ordnung. So wird die Veranstaltung selbst, im nächsten Jahr positive Impulse ins kriegsgeschüttelte Land bringen.


Was noch zu sagen wäre

Eigentlich kann ich nun erst so richtig loslegen, um von der genialen Kombination aus Technik, Show und Akustik in der Eventhalle „Globen“ zu sprechen, die sicherlich im Fernsehen nicht so intensiv zu sehen war. Ich könnte über die einmalige Stimmung in Stockholm, beim Event und den Begleitveranstaltungen sprechen, die sich auch auf den Green Room und alle Interpreten übertragen hat. Und sicherlich könnte ich auch von Armenien sprechen, bei dem der Wahl-Hamburgerin Iveta Mukuchyan der einzige Song mit einem Drop gelungen ist. Ein discotauglicher Remix müsste schon noch an der Struktur schrauben, hätte aber Potential. Da ich aber schon so viel geschrieben habe bleibt mir nur das…

 

Fazit: Auch 2016 war der ESC wieder so schillernd, schräg und kontrovers, wie es sich gehört. Wenn Deutschland mithalten möchte, muss die ARD frühzeitig ein paar innovative Köpfe buchen. Das Gewinnerland Ukraine wird sich 2017 sicherlich als modernes und friedliebendes Land präsentieren und das erweiterte Europa zu einer musikalisch-politischen Show einladen. Da bleibt mir nur in einer etwas weichen und nasalen Art zu sagen: „Happy Eurovision!“ 

 

 

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Über den Autor
Marco Boehm

Musik begleitet mich im Leben. Als Musiker, Songwriter und DJ sind Beats und Rhythmus die Grundlagen für das Musikgefühl. In Kombination mit musiktheoretischem Hintergrund wird daraus ein ganzheitliches Musikverständnis. Elektronische Clubmusik kann mich dabei genauso beeindrucken wie Pop, Rock oder Chartmusik. Selbst der Eurovision Song Contest fasziniert mich. Aus diesem Grund lasse ich mich auf keine Musikrichtung festlegen.

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