https://soundcloud.com/wennrich/euro2020 und https://soundcloud.com/wennrich/euro
Martin Garrix durfte heute gemeinsam mit Bono und The Edge von U2 endlich die offizielle Hymne zur UEFA Europameisterschaft 2020, “We Are The People“, veröffentlichen. 2020? Ja, die wegen der CoViD-19-Pandemie neu terminierte EM wurde auf dem Papier verschoben - und so auch die Hymne - aber führt offiziell noch immer den Titel 2020. In diesem Kommentar möchte ich mich kritisch mit dem Werk des niederländischen Wunderkindes auseinandersetzen. So viel sei gesagt: Ich bin enttäuscht.
Den Titelsong zu einem Sportturnier von solch immenser internationaler Bedeutung produzieren zu dürfen, ist eine große Ehre. Wir alle erinnern uns an “Waka Waka“ (WM 2010) oder “Love Generation“ (WM 2006). Zwar handelt es sich hierbei um Werke des großen Schwesterturniers, der WM, doch die EM muss sich allein schon aufgrund ihrer fußballerisch starken Teilnehmernationen nicht verstecken.
Genauso wenig muss sich Martin Garrix hinter einem großen Namen wie Shakira verstecken. Der mit dem heutigen Tage 25 Jahre junge DJ kann bereits jetzt auf viele Hits (“In The Name of Love“, “Scared To Be Lonely“, “Animals“) zurückblicken. Bei der EM 2016 war es David Guetta, der mit “This One’s For You“ einen überraschend Dance-affinen Ansatz wählte. Daher hofften viele, Garrix werde den womöglich größten Track seiner Karriere präsentieren. Schließlich befeuerte er die Erwartungshaltung aufgrund der Verschiebung mehr als ein Jahr lang. Nun kann man sich ernsthaft fragen, ob es das wert war.
Besonders ein Adjektiv beschreibt die Hymne am zutreffendsten: generisch. Schon der Titel “We Are The People“ klingt einer Liste für möglichst PR-taugliche Namen entnommen. Um fair zu bleiben, ist dies bei UEFA-Hymnen meistens der Fall. Musikalisch hören wir sofort die Handschrift von Martin Garrix‘ Songwriter Kristoffer Fogelmark aka Bonn heraus. In ihren gemeinsamen Collabs “High On Life“, “No Sleep“ und “Home“ stellte er unter Beweis, dass er es versteht, einen epischen Pre-Chorus allein durch die Stimme zu gestalten. Doch das ist leider auch das einzig Positive an diesem Lied.
Der Lead-Sound im Instrumental lässt sich nicht eindeutig als VST-Preset oder echtes Zupfinstrument identifizieren. Hinzutreten einige Gitarren-Riffs sowie eine seichte Bassline mit überraschend stampfender Kick. Soiel zum Technischen.
Wichtiger wird für die Millionen von Zuschauern vor den Fernsehgeräten jedoch die Wirkung sein. Sofern einem der Song überhaupt im Kopf bleibt, erinnert er stark an eine Eigenkomposition auf dem Yamaha-Keyboard eines Alleinunterhalters in der Ecke der Hotel-Lobby. Irgendwo dümpelt die Melodie vor sich hin, welche die ganze Zeit über an das Outro einer Progressive-House-Produktion erinnert, dann singt Bono irgendwas von Liebe, Leben und Einigkeit und dann ist die Nummer auch schon vorbei. Und dafür brauchte es Martin Garrix?
Es scheint so, als hätten sich Hit-Producer Giorgio Tuinfort (Produzent von David Guetta), Kristoffer Fogelmark (Bonn), die U2-Jungs und Martin Garrix über Wochen hinweg in einem Studio eingeschlossen, um den perfekten EM-Song zu schreiben. Wann immer jemand eine attraktive, innovative Idee einwarf, fragten alle kritisch: „Glaubst du, sowas können wir uns bei der offiziellen Hymne zur Europameisterschaft erlauben?“ Die Antwort war dann stets: „Gehen wir lieber auf Nummer sicher.“ So hat die Panik davor, etwas falsch zu machen, um sich gegriffen und den eigentlichen Entwicklungsprozess gelähmt.
Die frischen Ansätze, die in Garrix‘ jüngstem Release “Pressure“ anklangen, wurden verworfen. Klar, eine Deep-House-Scheibe wäre wohl kaum von der UEFA-Delegation akzeptiert worden. Doch wo ist der Mut? Wo ist die Zielsetzung, einen Track zu veröffentlichen, den jeder in eine Reihe mit “Waka Waka“ sieht? So taugt “We Are The People“ nur als Hintergrundmusik, um das virtuelle Intro samt Paarung und Aufstellungen zu untermalen. Das ist auch eine wichtige Aufgabe und mit Sicherheit als Voraussetzung kommuniziert worden. Doch auf der anderen Seite soll es den Fans ein Gefühl von Großartigkeit vermitteln: Leute, es ist EM! Corona können wir eventuell bald hinter uns lassen! Lasst uns wieder anfangen, das Leben zu feiern. “We Are The People“ zeigt, wie man auf dem Papier alles richtig machen und dennoch versagen kann.
Dass der 25-Jährige nicht mit einem Festival-Banger um die Ecke kommen würde, sollte jedem klar sein. Doch zeigte er in der Vergangenheit, dass es einen Weg zwischen Radio-Releases und Party-Hymnen gibt. “No Sleep“ beispielsweise verbindet eine seichte Pop-Ballade mit den Ansätzen des Progressive House. Diese Rezeptur hätte man mit den Zutaten der UEFA verfeinern können. So hätte Martin Garrix einen EM-Song liefern können, der ihn als Artist repräsentiert und echten Hymnen-Charakter aufweist.
Fazit: Gemeinsam mit den Jungs von U2 veröffentlicht Martin Garrix mit “We Are The People“ keinen schlechten Song, doch mangelt es - wie so oft bei den letzten FIFA/UEFA-Hymnen - an Euphorie, Energie und Ohrwurmfaktor. So wirkt die Single wie Begleitmusik statt wie eine wahre Hymne für das erste große Event „nach“ Corona. Er konnte seine große Chance nicht nutzen, da ihn, wie es scheint, die Angst davor, etwas falsch zu machen, lähmte. Ein Martin-Garrix-Fan kommt hier nicht auf seine Kosten, ebenso wenig Fans des gepflegten Fußballs. Der Song macht nichts falsch, aber auch nichts richtig.
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