Ich gehöre zu den Menschen, denen es sehr schwer fällt, Musik zu ranken. Tracks können für mich sehr verschiedene Bedeutungen haben. Da stellt sich dann die Frage, ob ein Liebling in einer eher traurigen Phase besser als ein fröhlicher Titel sein kann - oder ob es zwei unterschiedliche Bindungen sind, die man nicht miteinander vergleichen kann. Dennoch beuge ich mich unserer Tradition und präsentiere im Folgenden meine Top 10 des Jahres 2019. Dabei sei allerdings erwähnt, dass ich keine Statistiken wie „meistgespielt“ o.ä. miteinfließen lassen habe.
Im Oktober habe ich mich nach Amsterdam begeben, um mir erstmals Martin Garrix‘ ADE-Show anzusehen - natürlich rein geschäftlich, versteht sich. Julian Jordan war bis dato einer der Acts, die ich irgendwie auf dem Schirm hatte, aber nie wirkliches Interesse für hatte entwickeln können. Das änderte sich mit einer ID, die Garrix während seines Sets an zweiter Stelle spielte. “Next Level“ ist innovativ, klingt fett und bereichert die Kreativität. Ich werde mir die kommenden Releases mit Sicherheit etwas genauer anschauen, um zu überprüfen, ob es sich dabei nicht nur um einen Glücksgriff handelte.
2019 wurde für mich vor allem eins: härter. Happy Euphoric Hardstyle spielt bei mir seit der Gründung des Labels Art Of Creation seitens Headhunterz und Wildstylez eine größere Rolle. “Untamable“ hat eine einprägsame Melodie, die im Drop eben nicht von einer 08/15-Hardstyle-Kick untermauert wird, sondern ohne Distortion im Bass-Bereich auskommt. Das lässt die Scheibe unter Genre-Genossen hervorstechen. Ruby Prophets Stimme muss man mögen. Wie bei Firebeatz‘ Hit “Invincible“ ist es aber manchmal genau das, was den Song abrundet. Ich bekomme beim Hören super Laune und sehe den gefüllten Festival-Floor vor meinem geistigen Auge.
Wie schon in meinem Jahresrückblick für Mr. Garrix ausgeführt, herrscht über “Home“ Uneinigkeit. Ich gehörte wohl ähnlich wie die Mehrheit zu den Kritikern des Werks. Wir war nicht klar, welche Emotionen in mir geweckt werden sollten und in welcher Situation ich mir den Titel vorstellen sollte. Wenn man dieses Problem einfach unbeachtet lässt, dann nimmt einen “Home“ auf einen Trip mit (nein, nicht so einer), bei dem man jedes Mal lächeln muss, wenn Bonn die Hook „Home, take me home…“ ins Mikro singt. Das ist auch mit Abstand mein Lieblingspart. Der Song geht praktisch auf und so auch damals Martin Garrix, als er ihn als Intro bei seiner oben genannten ADE-Show spielte.
Vermutlich ist kaum ein Festival-Gänger an diesem Lied vorbeigekommen. D-Block & S-te-Fan in Verbindung mit Sub Zero Project? Das kann eigentlich nur gut werden. Und es wurde sogar grandios. “Darkest Hour“ setzt sein Thema wunderbar in die Tat um. Wie eine Halloween-Hymne wird uns erst eine gruselige Story geboten, bevor der Song dann in seinen mehr als aggressiven Lead-Synth einsteigt. Der Drop ist wortwörtlich alarmierend. Man kann den Sound eigentlich nicht beschreiben, hört selbst. Dabei empfehle ich allerdings die nicht zerschnittene Version auf Spotify. Der Vollständigkeit halber fügen wir hier das Musikvideo ein.
Schon wieder Hardstyle. Diesmal ist es der King höchstpersönlich. Was Hardwell für Big Room ist, ist Headhunterz für den Hardstyle. “Oxygen“ ist objektiv betrachtet ziemlich durchschnittlich. Wir haben ein Intro, einen ersten Drop ohne verzerrte Kick und dann zwei melodischere Drops, welche die allseits bekannte Hardstyle-Kick aufweisen. In mir weckt die Single irgendwas. Sie triggert bei mir einen emotionalen, euphorischen Punkt, der sich in der Headhunterz’schen Art, Lead-Melodien zu schreiben, widerspiegelt. Die Lyrics sind zugegebenermaßen ziemlich cheesy. Nichtsdestoweniger wurde und werde ich hier auf voller Linie vom Instrumental abgeholt.
Wieder ist es Martin Garrix schuld. Sein Label veröffentlicht einen hohen Prozentsatz an hörbar „anderer“ Musik. Hier kommen eher selten die Megastars unter und eher solche, die einen Signatur-Sound haben. Dazu gehört SWACQ zweifelsohne als eines der vielversprechendsten Talente. Abwechslungsreich und doch energiegeladen reicht sein Spektrum von “Party Time“ mit Tiesto bis eben zu “No Strings Attached“. Der Name ist hier Programm. Im Grunde wird über die vollen drei Minuten ein eintaktiger Loop vorgespielt, der sich nur geringfügig dem restlichen Instrumental anpasst. Doch genau das macht es für mich so geil. Es ist eine Kunst, Menschen mit so wenigen Elementen zu beeindrucken. Der Drop hat viel Druck und kommt für Nichtkenner völlig unerwartet. Der Break ist ebenfalls kreativ gestaltet, wobei eine Anlehnung an Deadmau5 wohl kaum ausgeschlossen werden kann. Interessanterweise kommt der Track mit vergleichsweise wenigen BPM über die Runden.
Spätestens jetzt stoßen wir auf ein großes Problem solcher persönlichen Top-Listen. Je länger ein Song veröffentlicht ist, umso weniger wissen wir ihn oft wertzuschätzen. “TUTUTU“ ist so ein Beispiel. Gott, habe ich diese Scheibe abgefeiert. Jetzt habe ich mich zwar an ihr satt gehört, kann aber immer noch nachvollziehen, was ihn (für mich) besonders macht. Das Vocal - wenn man es denn so nennen kann - ist allgegenwärtig. Wir finden die Melodie in jedem Part der Nummer wieder. Gute Laune, viel Energie und Einzigartigkeit machen “TUTUTU“ zu einem der Gründe, warum ich Quintino schätze. Er liefert regelmäßig das, wonach wir nicht gefragt haben, weil wir nicht wussten, dass wir es brauchen.
Maurice West trifft mit seinem Sound in 90% der Fälle genau meinen Geschmack. Ja, ich bin ein Big-Room-Opfer, welches das Genre zwar regelmäßig selbst kritisiert, aber insgeheim liebt. Vielleicht ist es sogar das Genre für mich, auch wenn Willem von W&W das anders sieht. Warum gerade ein Big-Room-Produzent, fragt ihr euch? Dann hört Mal in mein Interview mit den Jungs rein. Dort reden wir unter anderem über genau diese Frage. Apropos W&W: Lange kursierte das Gerücht, dass Maurice West eine Art Side-Project ihrerseits sei - ähnlich wie bei TWIIG -, was allerdings spätestens dann dementiert werden konnte, als West eigene Shows spielte und Produktionen im Studio zeigte. Vielleicht ist es genau diese Ähnlichkeit im Klang, die mir liegt. Vielleicht haben die beiden Acts auch lediglich denselben Mastering-Engineer. Who knows. Maurice West hingegen bescherte mir in den letzten zwei Jahren einige schöne Stunden (okay, das klingt falsch). “What The F?!“ ist nicht nur wegen des eigenartigen ersten Drops cool, sondern insbesondere, weil der zweite böllert. Obwohl dieser eigentlich nach Schema F verläuft, catcht mich seine Power in Verbindung mit dem vorangegangenen Build-Up jedes Mal. Ich ärgere mich regelmäßig darüber, dass der Youngster so underrated wird.
Oh je, jetzt wird es ja richtig emotional. Obwohl ich kein Holländer bin, holt mich “Orange Heart“ ab. Grund dafür ist die Herr-Der-Ringe artige Stimme a la Enya. Gefühlvoll, traurig und an den richtigen Stellen kraftvoll singt Sian Evans ihre Lyrics ins Mikro. Das tragende Instrumental unterstützt sie dabei nicht nur großartig, sondern hält auch eine eigenwillige Melodie parat. Darum windet sich Evans Gesang wiederum in perfekter Synergie, sodass sich die beiden Elemente bis in die Unendlichkeit der Insanity hochschaukeln. Ich könnte jede Sekunde aus diesem Meisterwerk herauspicken und würde außergewöhnlichen Gefallen daran finden. Nach seinem Mini-Album war 2019 sicherlich Headhunterz‘ bestes Jahr aus meiner Sicht.
Okay, zugegeben: Dieser Track hat einen unfairen Vorteil. Für alle, die es jetzt noch nicht gerafft haben - ja, ich bin ein Riesen-Fan von Martin Garrix. Allerdings heißt das nicht, dass ich seine Produktionen aus Prinzip glorifiziere. Wer meine Artikel verfolgt, der weiß, dass ich mich gerade wegen meiner Leidenschaft für ihn nicht selten dazu hinreißen lasse, ein noch schärferes Maß anzulegen. Der oben genannte Vorteil resultiert also gar nicht aus dem Interpreten, sondern der Situation, in der ich die Nummer das erste Mal gehört habe. Das war im März beim Ultra Music Festival in Miami. Dort hinzureisen war immer ein Traum für mich gewesen, der dieses Jahr in Erfüllung ging. Passend zu der ohnehin schon guten Ausgangslage feierte “Mistaken“ (die Rede ist übrigens vom Original und nicht dem Club Mix) in Garrix‘ Set als Intros Weltpremiere. Diese ganzen Umstände summierten sich und machen “Mistaken“ allein deswegen schon zu einem heißen Anwärter auf meine Nummer eins. Hinzukommt natürlich noch das Musikalische. Ich fühle die Nummer durch und durch. Alex Aris‘ kehlkopflastigen Gesang muss man mögen, keine Frage. Doch irgendwas macht dieses Lied einzigartig für mich. Die Sonne geht auf, wenn die Synths die Lead-Melodie spielen und der Build-Up in den Drop mündet. Von vorne bis hinten passt einfach alles für mich. Daher ist “Mistaken“ mein Track des Jahres 2019.
Fazit: Musikalisch hatte 2019 einiges zu bieten. Das ist aber meiner Meinung nach jedes Jahr der Fall. Man muss sich eben nur seine Lieblinge zusammensuchen. Das wird jedem gelingen, der kein Mainstream-Radio-Zombie ist, sondern sich Kants Worte zu Herzen nimmt: „Sapere aude!“ Das gilt uneingeschränkt für Musik. Habt auch hier den Mut, euch nicht nur eures Verstandes zu bedienen, sondern habt auch den Anspruch an euch selbst, mehr als nur mit dem Strom zu schwimmen.
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