
Hardwell beim UMF 2018.
Ach ja, endlich wieder Ultra Music Festival und das heißt für uns in der Redaktion - wie wohl auch für viele andere - Livestream-Marathon! Als erstes großes Festival zu Beginn der Saison richtet sich ein besonderes Augenmerk auf Miami, da dort die Künstler präsentieren, in welche Richtung es im Verlaufe des Jahres gehen wird. Hardwells Set polarisierte. Während einige sich in einen Rausch feierten, kritisierten andere die „mangelnde Innovation“, allen voran natürlich das Genre des Großmeisters: Big Room. Warum dieser Hate ein Widerspruch in sich ist, wollen wir in den nächsten Zeilen erörtern.
Bereits seit Anbeginn der Zeit wird in der EDM-Szene heiß diskutiert, welches Genre denn jetzt offiziell „tot“ sei und ob Dimitri Vegas & Like Mike eine Digital Audio Workstation schonmal vor Augen hatten. Okay, zugegeben, letzteres wäre ein Thema für einen anderen Artikel. Wenn es dann also um diese ausgestorbenen Genres geht, fällt eher früher als später der Begriff Big Room. Um Klarheit zu schaffen: Was ist eigentlich Big Room?
2013 ist das Jahr null für alle Anhänger der modernen, elektronischen Tanzmusik. In diesem Jahr erlebte EDM seinen Boom. Tracks wie “TSUNAMI“ von DVBBS oder Martin Garrix “Animals“ mauserten sich binnen kürzester Zeit zu den Hymnen der Dancefloors. In einer schnelllebigen Welt sind fünf Jahre eine lange Zeit, in der sich viel verändern kann. Mit dem Wechsel einer der größten Hoffnungsträger des damals immer noch dominierenden Genres, Martin Garrix, hin zum Progressive House und insgesamt kommerzielleren Sound entfachten um 2015 erste Befürchtungen, Big Room könnte seinen Zenit bald erreichen oder möglicherweise schon erreicht haben. Festgemacht wurde das anhand der Ähnlichkeit und daraus schlussgefolgerten Ideenlosigkeit der Tracks bzw. Artists. Plötzlich war es nicht mehr „cool“, “Spaceman“ zu hören, sondern sich in den melodiösen Werken im Tropical House, Deep House oder Progressive House zu verlieren. Dass damit eine der schädlichsten Bewegungen für die EDM-Szene gefeiert wurde, wird später genauer beleuchtet werden.
Wo Erfolg stattfindet, da ist auch immer Geld im Spiel. Während sich also R3hab, Quilinez, MOTi, Showtek etc. an den Kommerz verkauften, blieben Szene-Väter wie Hardwell, W&W, Blasterjaxx oder die Bassjackers ihrem Stil treu. Dieser mutige Schritt, sich gegen das Geld und für die Liebe zur Musik zu entscheiden, wurde allerdings nicht hochangerechnet, sondern aufs Schärfste kritisiert. So wurden all die, welche nun statt 128 BPM Power lieber sanfte Pop-Balladen produzierten, als Pioniere und Innovatoren ihrer Zeit angesehen. Es gab zwar Künstler wie Kygo, die schon immer kommerzielle Musik veröffentlicht haben, aber in den letzten drei bis vier Jahren schien es so, als wollte jeder einmal im Radio-Interview bei WDR2 sitzen.
Ein Name, der über die Szene hinaus für Bekanntheit sorgte, ist definitiv Hardwell. Der Niederländer war mit “Apollo“, “Don’t Stop The Madness“, “Arcadia“ und etlichen weiteren Werken der Mitinitiator für den Boom. Er steht sinnbildlich dafür, dass Big Room nicht tot ist, und dass Genre-Variation nicht direkt einen kompletten Abschied von den Wurzeln bedeuten muss. Letztes Jahr feuerte er noch das allgemein als bestes angesehene Set des Ultra Music Festivals ab, dieses Jahr erfährt er viel Gegenwind. Doch was hat er anders gemacht?
Fast gar nichts. Natürlich sind die Tracks nur bedingt übernommen worden und daher liegt es im Auge des Betrachters, ob die neue ID jetzt gefällt oder nicht, doch insgesamt war das Konzept kongruent. Persönlich muss ich zugeben, dass auch mich dieses Jahr nicht wirklich überzeugen konnte, als Martin Garrix 2017 jedoch eine Kopie seines Auftritts des Vorjahrs spielte, war die Resonanz eher bedeckt. Warum - ganz einfach. Big Room bietet mit all seinen Facetten das ideale Ziel zum Haten. „Das hört sich doch alles gleich an“, „Den Drop habe ich gefühlt schon 100 Mal gehört“, „Der ist ja Mal voll 2013“ sind nur einige Aussagen, die einem des Öfteren im Internet begegnen. Ist Big Room denn wirklich so mies?
Dieses Genre ist dafür verantwortlich, dass wir in diesem Ausmaß EDM-Festivals überall auf der Welt haben, sich die mediale Präsenz vervielfacht hat und letztendlich wir hier bei Dance-Charts dieses News-Portal betreiben können. Jetzt mag der ein oder andere vielleicht sagen, diesen Job hätte genauso gut Genre X/Y erledigen können; hat es aber nicht.
Als Betrachter ist es schlichtweg intolerant, die Faszination und die immer noch anhaltende Euphorie um Big Room zu ignorieren. Wäre Big Room wirklich tot, brächte ein anderes Genre die Mainstages dieser Welt zum Kochen. Kein anderer Stil sorgt flächendeckend für derartigen Partyfaktor in Clubs, auf Abi-Partys und jeglichen weiteren Veranstaltungen, auf denen das junge Volk dominiert. Wieso ist Revealed Recordings neben Spinnin‘ Records das Label der EDM-Industrie? Sicher nicht, weil er Laden finanziell nicht läuft.
Wer außerdem mit fehlender Innovation oder zu ähnlichem Sound-Design argumentiert, der möge bitte einmal einen Blick auf die Pop-Musik oder jedes weitere Genre werfen. Dass sich “The Underground“ von Maddix anhört wie “C.U.B.A.“ von Calvin Harris, dass “Spaceman“ Ähnlichkeiten mit “Hands Up“ von Hardwell & Afrojack aufweist, oder dass “SHIVA“ seitens KSHMR sowie “Snake“ aus dem Hause Blasterjaxx ja derselbe Track seien, ist mir wohl entgangen.
Fazit: Auch, wenn es Spaß macht, seiner angestauten Negativität Mal Auslauf zu gewähren, muss an einem gewissen Punkt der analytische Menschenverstand wiedereinsetzen. Tote reden nicht, und ebenso keine toten Stile. Sowohl bei Musik als auch bei Meinungen generell ist Diversität ein wahres Geschenk. Nur so kann man dem Verrühren des EDM-Imperiums zum Einheitsbrei entgegenwirken, denn eines sei gesagt: Die absolute Kommerzialisierung der elektronischen Tanzmusik zerstört eine Szene, indem sie sie in die Maschinerie des Pops und Mainstreams einspeist. So könnten wir uns gewiss eines Tages vom aktuellen Ruhm des EDM verabschieden. Danke Big Room, danke Hardwell.